Der Tag beginnt stressfrei und ich kann meinen letzten Blog abschließen. Während ich dann eine Handwäsche mache und die Geschichte Tallinns erkunde (siehe Anhang!), machen sich meine Jungs schon zur Erkundung des Ortes auf. Kurz vor Mittag folge ich auf den Platz der Freiheit mit dem Denkmal für den Unabhängigkeitskrieg, besuche die Kirche am Platz und lese am Denkmal nochmal ausführlich die Geschichte des Freiheitskampfes gegen die Russen. Nach einem gemeinsamen Mittagessen besuche ich dann noch den Domberg mit der Domkirche zu St. Marien (erbaut 1233), Hauptsitz der evangelischen Kirche Estlands mit den Wappen der einstigen Adligen. Dann erblicke ich auf dem Weg zur Alexander-Newsky-Kathedrale das 1862 erbaute herrschaftliche Haus des Marschalls Alexander von der Pahlen (1819-1895), der die Eisenbahnlinie von Tallinn nach St. Petersburg gebaut hat. Ferner komme ich an der Domschule zu Reval vorbei, die von 1319 bis 1939 existiert hat. Die russisch-orthodoxe − 1900 als Zeichen des russischen Herrschaftsanspruchs eingeweihte − Kathedrale steht heute in kleinerer Version als Basilius-Kathedrale auch in Moskau. In der Kathedrale haben mich gerade sehr alte Ikonen in ihrer Ausdruckskraft, Farbkomposition und Bildaufteilung überwältigt. Gerade diese herausragenden Kunstwerke finden sich aber nicht als zu kaufende Drucke, so dass man über den künstlerischen Wert der Ikonenmalerei schnell einen voreiligen Eindruck gewinnen kann. Leider konnte ich diese − von einem Mönch streng überwacht! – nicht fotografieren. Nach diesen noch lange nachwirkenden Eindrücken konnte ich noch eine Folkloretanzveranstaltung miterleben. Als ich dann auf dem Marktplatz noch Kinderchöre mit insges. ca. 70 Kindern und Jugendlichen erleben durfte, hatte ich an diesen − noch bis Freitag andauernden Altstadttagen − wirklich viele Eindrücke gewonnen. Als ich dann um 18:00 Uhr meine Jungs im Hostel traf, teilte mir Karl-Josef mit, dass uns das eigentliche Highlight noch um 19:00 Uhr bevorstehe. Man habe sich nämlich mit dem Ehepaar aus Hilden wieder getroffen und zum Essen verabredet. Jürgen wollte noch die Fähre buchen und wir kehrten zusammen mit dem Ehepaar, das nach 1200 km mit dem Fahrrad durch Wind und Wetter noch taufrisch aussieht, in einem Brauhaus bayrischer Prägung ein. Später kommt Jürgen nach und wir hatten mit dem Erzählen über unsere Urlaubserlebnisse – vor allem über das Verlegen und Verlieren − viel Spaß. Ewald referiert u. a. über den Import und Export der Hanse und welche Häuser für die deutschen Kaufleute in Tallinn gebaut wurden, Jürgen und Ewald schweben dann in unerreichbaren Sphären der Maschinenbautechnik und irgendwann fragte ich mich, warum Herr Meermann bereits jetzt im zarten Alter von 78 Jahren die Leitung der Firma mit zahlreichen Niederlassungen an seine Tochter abtreten musste und wie es bereits so früh zu dieser wahrhaft tragischen Familientragödie zum Sturz eines Titanen der deutschen Wirtschaft kommen konnte. Hat dabei die glücklich ausschauende Königinnenmutter vielleicht ihre Fäden gesponnen? Gegen 10:30 Uhr trennten wir uns ganz herzlich mit dem Versprechen, mit den Blogs pünktlicher zu werden und der Verabredung eines Nachtreffens im September oder spätestens Oktober.
Anhang für Interessierte:
Die Geschichte Tallinns
(Infos aus Wikipedia und aus „Baltikum per Rad“ von Michael Moll)
Im Jahre 1219 eroberte der dänische König Waldemar II. die alte estnische Burg auf dem Domberg, und begann mit dem Bau einer Domkirche für den Missionsbischof Suffragan. Dänemark konnte die Burg jedoch nicht lange gegen die aufständischen Esten und die vordringenden Deutschen halten. 1227 eroberte der Schwertbrüderorden das damalige Reval mit päpstlicher Genehmigung. Der Schwertbrüderorden ließ im Jahre 1230 aus Gotland 200 westfälische und niedersächsische Kaufleute anwerben, die sich, mit Zollfreiheit und Land belehnt, unterhalb der Burg ansiedeln. Als der Orden es ablehnte, seine Lehnsherrschaften und die Burg drei Jahre später wieder an den päpstlichen Legaten zu übergeben, machte der dänische König seine Ansprüche auf Reval und Estland wieder geltend. Nach der vernichtenden Niederlage in der Schlacht von Schaulen im Jahre 1236 strebte der Schwertbrüderorden die Vereinigung mit dem Deutschen Orden an, die der Papst nur gegen die Herausgabe Revals genehmigte. So ging der Schwertbrüderorden 1237 als Livländischer Orden in den Deutschen Orden über und Reval fiel 1238 an Dänemark. Unter der erneuten dänischen Herrschaft bis zum Jahre 1346 gewann die Stadt rasch an Größe und wirtschaftlicher Bedeutung. Im Jahre 1248 erhielt sie vom dänischen König das lübische (Lübecker) Stadtrecht, das bis 1865 galt. Mit der gleichen Urkunde wurden die ersten Ratsherren ernannt. Die Stadt erhielt nach und nach umfangreiche Privilegien, die sie vom Landesherrn weitestgehend unabhängig machten. Die Amtssprache in Tallinn war bis 1889 Deutsch.
Obwohl Reval unter dänischer Herrschaft stand, behielt die Stadt eine deutsche Oberschicht, und da diese fast ausschließlich aus Kaufleuten bestand, war ein baldiger enger Kontakt zur Hanse nicht verwunderlich. Dass sich Reval als der Hanse zugehörig betrachtete, ist bereits für 1252 belegbar. Von wirtschaftlicher Bedeutung war die dänische Entscheidung von 1294, allen deutschen Kaufleuten den Handelsweg nach Nowgorod über Reval und Narwa zu gestatten. Damit konnte Reval zu einem Knotenpunkt des hansischen Ostseehandels werden. Nach der Niederschlagung eines großen Estenaufstandes mit der Hilfe des Deutschen Ordens entließ der dänische König 1346 seine estländischen Vasallen aus ihrem Treueeid und verkaufte dem Deutschen Orden seine Rechte an Nord-Estland. Reval, Teil des „Livländischen Drittels“ der Hanse, erhielt 1346 zusammen mit Riga und Pernau das Stapelrecht, das alle mit Russland Handel treibenden Kaufleute dazu verpflichtete, eine der drei Städte anzulaufen und für einen Zeitraum von drei bis acht Tagen ihre Waren auf dem Markt anzubieten. Der Russlandhandel blieb allerdings nicht immer ungetrübt. Nach mehreren unsicheren Jahren brach 1471 der Handel mit Nowgorod durch Angriffe der Moskauer ganz ab, und 1478 wurde das bis dahin unabhängige Fürstentum von den Moskauern endgültig erobert. Nach einer kurzen Friedensperiode folgte 1501–1503 ein erfolgreicher Kriegszug des Deutschen Ordens gegen Moskau, an den sich ein bis 1558 dauernder Friede anschloss. Die Kriege mit den Moskauer Russen brachten für Livland und Reval schwere wirtschaftliche Verluste, wie auch eine Reduzierung der Bevölkerung. Erst 1514 gelang die erneute Errichtung einer Handelsbeziehung der Städte Reval und Dorpat mit Nowgorod, die zu einer neueren wirtschaftlichen Blüte bis in die 1550er Jahre führte. Im 16. Jahrhundert hat die Stadt ca. 6.000-7.000 Einwohner. Die Reformation erreichte Reval 1523/24 und verlief auch in ganz Livland unblutig. Die restliche Zeit der Ordensherrschaft war von inneren und äußeren Streitigkeiten geprägt, bis Moskau bei seinem Einfall 1558–1561 den Deutschen Orden in Livland besiegte. Reval wandte sich an Schweden als Schutzmacht, womit eine bis zum Großen Nordischen Krieg 1710 anhaltende schwedische Herrschaft in der Stadt begann.1549 erhielt die Olaikirche einen gotischen Turm mit der zu dieser Zeit außergewöhnlichen Höhe von 159 Meter; bis zum Brand von 1629 blieb er das höchste Gebäude der Welt. Heute ist er nach einem Wiederaufbau im 19. Jh. nur noch 123,7 Meter hoch. 1561 wurde die Stadt schwedisch.
1631 – Gründung des ersten Gymnasiums; 1684 – vernichtender Brand auf dem Domberg; 1710 – Pestepidemie, Tallinn hatte danach noch 2.000 Einwohner
Infolge des Großen Nordischen Krieges fiel Reval 1710 an Russland. Peter I. setzte die alten deutschen Ratsgeschlechter wieder vollständig in ihre ursprünglichen Positionen ein. Am 24. Februar 1918 wurde die selbständige Republik Estland ausgerufen; die Stadt, die nun Tallinn hieß, wurde schließlich Hauptstadt des unabhängigen Estlands. Die eigentliche Unabhängigkeit wurde im Freiheitskrieg (1918–1920) erkämpft und durch den Friedensvertrag mit dem sowjetischen Russland gekrönt.
Ein geheimes Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt im August 1939 machte den Weg für die Eroberung Estlands durch die Sowjetunion frei. Die deutschbaltische Bevölkerung wurde vom Tallinner Hafen aus auf Befehl Hitlers in den neu geschaffenen Reichsgau Wartheland umgesiedelt. Nach der sowjetischen Okkupation im Juni 1940 wurde die Estnische Sozialistische Sowjetrepublik ausgerufen, deren Hauptstadt Tallinn blieb. Es begannen die ersten Deportationen der estnischen Bevölkerung – insbesondere der politischen und kulturellen Elite – nach Sibirien und Nordrussland. In den sowjetischen Terrorwellen nach 1940 und dann wieder ab 1944/45 wurde insgesamt jeder fünfzehnte Este ermordet und jeder siebzehnte zumindest für zehn Jahre nach Sibirien verschleppt. 1941 besetzte die deutsche Wehrmacht Tallinn, wodurch die Stadt und das Land von einer Willkürherrschaft in die nächste geriet. Hitler verfolgte das Ziel, Estland dem Deutschen Reich anzugliedern. Dennoch beteiligten sich viele junge Esten am Vormarsch der deutschen Wehrmacht nach Osten und nahmen auch an Vernichtungsaktionen teil. Die deutsche Besatzungsmacht ließ die jüdische Bevölkerung Tallinns und Estlands nahezu gänzlich ermorden.
Am 9. März 1944 erfolgte ein schwerer sowjetischer Luftangriff. Während des Krieges blieb der Charakter der Altstadt trotz der Bombardierungen durch die sowjetische Luftwaffe gegen die in und um Tallinn stationierten deutschen Truppen erhalten. Die Wehrmacht wurde bis Ende 1944 von der Sowjetarmee im Zuge der Baltischen Operation aus Tallinn und Estland zurückgedrängt und die sowjetische Herrschaft wiederhergestellt. In der Stadt bestand das Kriegsgefangenenlager 286 für deutsche Kriegsgefangene des Zweiten Weltkriegs. Nach 51 Jahren wurde Tallinn am 20. August 1991, zur Zeit des Moskauer Putsches, erneut zur Hauptstadt eines unabhängigen Estlands. Infolge des immensen Wirtschaftswachstums und des in manchen Schichten stark gestiegenen Wohlstandes sind rund um Tallinn innerhalb weniger Jahre riesige Neubaugebiete entstanden. 1980 wird Tallinn Austragungsort der XXII. Olympischen Spiele von Moskau in der Disziplin Segeln. Seit 1997 wird die mittelalterliche Altstadt in die UNESCO-Liste der schützenswerten Weltkulturerben aufgenommen. Ende April 2007 kam es in Tallinn durch Krawalle und Plünderungen hauptsächlich russischstämmiger Jugendlicher zu den stärksten Unruhen seit dem Zerfall der Sowjetunion. Grund dafür war die von estnischen Behörden am 27. April 2007 veranlasste Umsetzung des Bronze-Soldaten von Tallinn von seinem ursprünglichen Standort im Stadtzentrum auf einen Militärfriedhof. Die Esten verbinden dieses Denkmal eher mit der Besatzungszeit - auch der Russen! - als mit der Befreiung von der nazideutschen Besetzung im Zweiten Weltkrieg, der das Denkmal gewidmet ist. Infolge des Denkmalstreits kam es zu einer schweren Krise in den Beziehungen zwischen Estland und Russland.








